4. September 2024

Der Markt für Telemedizin-Apps wächst rasant und verspricht eine effizientere und kostengünstigere Gesundheitsversorgung. Doch mit dem Wachstum steigen auch die rechtlichen Herausforderungen, wie der Fall der beiden Teledermatologie-Anbieter Dermanostic und OnlineDoctor 24 zeigt. Kern der Auseinandersetzung war die Frage, wie Software, die zur Erfassung und Übertragung von Patientendaten dient, rechtlich zu klassifizieren ist.

Das Oberlandesgericht (OLG) Hamburg hat in seinem Urteil vom 20.06.2024 (Az. 3 U 3/24) und die Anforderungen an die Zertifizierung solcher Software verschärft. Das Gericht entschied, dass Software, die Informationen für diagnostische oder therapeutische Entscheidungen bereitstellt, mindestens in die Risikoklasse IIa eingestuft werden muss.

Der Fall: Hintergrund und Streitpunkte

OnlineDoctor 24 klagte gegen die Markteinführung der neuen Teledermatologie-App von Dermanostic. Die Telemedizin-App erlaubt es Patienten, Fotos von Hautveränderungen sowie persönliche Daten und Anamnesefragen an Fachärzte für Dermatologie zu übermitteln, um von diesen eine Diagnose und Therapieempfehlung zu erhalten.

Dermanostic stufte die App gemäß Anhang VIII, Regel 11 der Medizinprodukte-Verordnung (EU) 2017/745 (MDR) als Medizinprodukt der Risikoklasse I ein. OnlineDoctor 24 argumentierte hingegen, dass die Software mindestens als Klasse IIa eingestuft werden müsse, da sie aktiv in diagnostische Entscheidungen eingebunden sei und damit ein höheres Risiko für den Patienten darstelle. Zudem darf ohne die notwendige Zertifizierung das erforderliche CE-Kennzeichen nicht angebracht werden und das Produkt müsste vom Markt genommen werden.

Nach der Auffassung von Dermanostic übermittele die App lediglich Daten und liefere keinen eigenen Beitrag zur Diagnose. Daher bestehe kein erhöhtes Risiko für Patienten und die App sei in Risikoklasse I einzustufen.

Die Bedeutung der Risikoklassifizierung

Die Risikoklasse eines Medizinprodukts ist von zentraler Bedeutung, da sie den Aufwand für die Zulassung und die regulatorischen Anforderungen bestimmt. Produkte der Klasse IIa oder höher müssen von einer Benannten Stelle geprüft und zertifiziert werden, was zu erheblichen Mehrkosten und einer längeren Marktzulassungszeit führt. Fehlt es an der erforderlichen Zertifizierung, darf die erforderlichen CE-Kennzeichen nicht angebracht werden und das Produkt müsste vom Markt genommen werden.

Im Gegensatz dazu können Produkte der Klasse I durch den Hersteller selbst zertifiziert werden, was den Zulassungsprozess erheblich vereinfacht und beschleunigt.

Entscheidung des OLG Hamburg

In seiner Entscheidung hatte sich das OLG mit der Auslegung gemäß Anhang VIII, Regel 11 der MDR auseinanderzusetzen. Diese lautet wie folgt:

„Software, die dazu bestimmt ist, Informationen zu liefern, die zu Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke herangezogen werden, gehört zur Klasse IIa, […]. Sämtliche andere Software wird der Klasse I zugeordnet.“

Das OLG Hamburg entschied, dass die Teledermatologie-App von Dermanostic aufgrund ihrer Funktion als Risikoklasse IIa eingestuft werden muss. Die Richter legten den Wortlaut der MDR-Regel 11 weit aus und haben sich vor allem auf den Wortlaut der Klassifizierungsregel 11 berufen. Dabei stand die genaue Bedeutung des Begriffs „Liefern“ im Mittelpunkt. Nach dem Wortlaut der Verordnung komme es nach Auffassung des OLG nicht darauf an, dass die Software selbst Diagnosen erstellt oder Informationen generiert, produziert oder analysiert. Denn eine Software, die eigenständig Diagnosen erstellt, falle bereits unter Regel 10 aus Anhang VIII.

In dem Streitfall war die App so konzipiert, dass die Diagnoseeinschätzungen und die Antworten der Patienten die nachfolgenden Fragen sowie die an die Dermatologen übermittelten Informationen beeinflussen. Daher führe die App zu einer strukturierten Erfassung medizinischer Daten und beeinflusse die weiteren Schritte in der Diagnostik.

Nach Ansicht des OLG würde eine restriktive Interpretation der Verordnung dem Ziel der MDR zuwiderlaufen, nämlich ein hohes Schutzniveau für die Gesundheit der Patienten und Anwender zu gewährleisten. Denn es mache einen Unterschied, ob ein Patient statt eines Arztbesuchs einen festgelegten Fragenkatalog ausfülle, die Hautstelle selbst fotografiere und diese Informationen per App an den Arzt sendet, um eine auf diesen Daten basierende Diagnose zu erhalten.

Praktische Auswirkungen und Handlungsbedarf für Hersteller von Telemedizin-Apps

Das Urteil hat in der Praxis erhebliche Verunsicherung ausgelöst, insbesondere bei Anbietern von Telemedizin-Software. Viele Hersteller fragen sich nun, ob ihre Produkte ebenfalls einer höheren Risikoklasse zugeordnet werden müssen und welche Konsequenzen dies für die Marktzulassung hat.

Betrachtet man die Auffassung des OLG Hamburg, stellt sich die Frage, wie die Formulierung der Regel 11 Absatz 3 zu verstehen ist, wonach „sämtliche andere Software“ der Klasse I zugeordnet werden soll. Denn fast jede medizinische Software liefert Informationen, die für diagnostische oder therapeutische Entscheidungen relevant sind, was den Anwendungsbereich der Klasse I stark einschränken würde. Die Frage, ob die durch Regel 11 verschärften Anforderungen an Medizinprodukte-Software im Vergleich zur früheren Richtlinie 93/42/EWG tatsächlich beabsichtigt und gerechtfertigt sind, wird letztlich vom Europäischen Gerichtshof geklärt werden müssen.

Handlungsempfehlung bei Telemedizin-Apps: Jetzt rechtlich absichern

Unabhängig davon, ob das OLG Hamburg in diesem Fall eine zu weite Auslegung vorgenommen hat, sollten Hersteller ihrer Telemedizin-Apps hinsichtlich der regulatorischen Anforderungen genau prüfen. Wer bislang keine rechtliche Beratung eingeholt hat, sollte dies spätestens jetzt tun, um potenzielle Risiken zu minimieren.

Im ersten Schritt muss geklärt werden, ob die Software überhaupt als Medizinprodukt klassifiziert werden muss. Ist dies der Fall, sind die Anforderungen der MDR zu beachten. Die Vor- und Nachteile sollten hier gut durchdacht und sorgfältig gegeneinander abgewogen werden.

Bei einer Klassifizierung als Medizinprodukt ist es entscheidend, die Risikoklasse korrekt einzustufen.

Für Hersteller ist es daher ratsam, frühzeitig durch Rechtsexperten eine fundierte rechtliche Einschätzung einzuholen und die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um langfristig sicher auf dem Markt agieren zu können.

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