27. April 2023

Vor Beginn der Corona-Pandemie durften Ärzte lediglich bis zu 20 % der per Online-Sprechstunde erbrachten Leistungen abrechnen. Während der Pandemie stieg das Bedürfnis und somit auch die Nachfrage sowie Durchführung telemedizinischer Leistungen deutlich an. Damit niemand von der Versorgung ausgeschlossen respektive der Zugang dazu nicht noch mehr als durch die Umstände ohnehin schon erschwert wird, wurde das medizinische Leistungsangebot angepasst. In der Konsequenz war es Ärzten zur Corona-Zeit möglich, 100 % ihrer Leistungen als Videosprechstunden abzurechnen.

Die Grundlage dieser flexiblen Reaktion stellt § 87 Abs. 2a S. 32 SGB V dar, welcher Ausnahmen von der Regelbegrenzung, beispielsweise im Fall einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, zulässt. Gleichzeitig wird diese Möglichkeit durch die Anordnung einer Befristung eingeschränkt. Die Frist für die Lockerung während der Corona-Pandemie ist am 1. April 2022 abgelaufen, wobei die ursprünglich standardmäßigen 20 % gleichzeitig auf 30 % gemäß § 87 Abs. 2a S. 30 SGB V erhöht wurden [https://www.kbv.de/html/1150_57682.php]. Es drängt sich die Frage auf, aus welchem Grund die Abrechnungsmöglichkeit digitaler Leistungen erneut derart eingeschränkt wird, obschon sich während der Pandemie gezeigt hat, wie viel Praktikabilität die Telemedizin mit sich bringt.

Im 4. Quartal 2019, also vor Beginn der Coronapandemie, wurden 1.592 Videosprechstunden von Vertragsärzten und -psychotherapeuten durchgeführt und abgerechnet, wohingegen es im 1. Quartal 2020, also nachdem die Abrechenbarkeit wegen der Verbreitung des Coronavirus auf 100 % erhöht wurde, bereits 202.653 Videosprechstunden waren [https://www.kbv.de/html/1150_52539.php]. Diese Entwicklung zeigt, dass das Angebot sowohl von Behandlern als auch von deren Patienten gerne wahrgenommen wird.

Es besteht kein Nutzungszwang

Es lassen sich keinerlei von der Videosprechstunde ausgehenden Nachteile verzeichnen, sodass eine Begrenzung schlichtweg entbehrlich ist. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass ohnehin nicht jeglicher Arzt-Patienten-Kontakt online stattfinden kann. Die Entscheidung, ob die telemedizinische Leistung in Anspruch genommen wird, verbleibt primär beim Patienten. Spricht sich dieser dafür aus, entscheidet sodann der Arzt, ob eine Fernbehandlung im konkreten Fall möglich und die physische Anwesenheit demzufolge entbehrlich ist.

Entscheidend ist, dass diese Abwägung dem Behandler vorbehalten bleibt und nicht etwa kraft einschränkender gesetzlicher Regelungen durch den Gesetzgeber vorweggenommen wird. Dieser macht durch die Festlegung der Quote auf nur 30 % deutlich, dass er die Videosprechstunde nicht als Standardversorgung und somit als nicht vollumfänglich dem medizinischen Goldstandard entsprechend ansieht [vgl. https://www.bundesaerztekammer.de/presse/aktuelles/detail/121-deutscher-aerztetag-ebnet-den-weg-fuer-ausschliessliche-fernbehandlung]. Damit rückt er die Fernbehandlung in ein Bild fernab einer de lege artis Behandlung, was geeignet ist, sowohl Ärzte als auch Patienten abzuschrecken. Letztendlich sind es die Behandelnden selbst, welche die Auswirkungen im Praxisalltag spüren und die erforderliche Kompetenz aufweisen. Denknotwendig müssen auch sie diejenigen sein, welche die Frage im konkreten Einzelfall und weitestgehend frei von gesetzlichen Einschränkungen entscheiden dürfen.

Die Vorteile einer Abrechenbarkeit von 100 %

Insbesondere für chronisch Erkrankte, welche regelmäßig mit einem Arzt in Kontakt treten müssen, um die relevanten Gesundheitsparameter überprüfen zu lassen, ist es eine exorbitante Erleichterung, nicht mit vielen, unter Umständen infizierten, Personen darauf warten zu müssen, vom Arzt physisch begutachtet zu werden. Doch auch für alle anderen Personen lassen sich erhebliche Vorteile verzeichnen. Überfüllte Wartezimmer können vermieden werden, wodurch sich die Ansteckungsgefahr mit (nicht nur Corona-)Viren verringert. Darüber hinaus kommt es zu einer Entlastung der Ärzte und deren Personal sowie zu einer nicht nur geringen Zeitersparnis für beide Seiten, indem lange Wartezeiten vermieden werden. Patienten können ihre Fragen schneller klären, ohne den unter Umständen langen Weg zur Praxis auf sich nehmen zu müssen. Dies trägt insgesamt zu einer effizienteren Gesundheitsversorgung der Allgemeinheit bei.

Die Auswirkungen der Pandemie sind mitunter psychischer Natur. Durch die ständige Isolation ist die Gefahr, an Depressionen zu erkranken, enorm gestiegen [https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/112868/UNO-warnt-vor-massiver-Verbreitung-von-mentalen-Stoerungen-durch-Coronakrise]. Die Konsequenz ist eine Überlastung der Psychotherapeuten, der ebenfalls durch Online-Sprechstunden entgegengewirkt werden kann. Betroffene erhalten die häufig zeitnah benötigte Betreuung schneller und flexibler als bisher. Außerdem wird eine etwaige Hemmschwelle seitens der Betroffenen gesenkt, da sich diese häufig wohler fühlen dürften, wenn sie sich in ihrer eigenen, vertrauten Umgebung befinden.

Die Digitalisierung ist überall präsent

Die genannten Vorteile lenken den Fokus zurück auf die Frage, weshalb kraft Reduktion der Quote von 100 % auf 30 % ein derartiger Rückschritt in der digitalen Entwicklung in Kauf genommen wird. Die vorherigen 20 % wurden im Ergebnis um lediglich 10 % erhöht, obwohl die Aufhebung der Beschränkung nur Vorteile mit sich brachte und das Angebot der Videosprechstunden rege genutzt wurde. Es scheint sich bei den 30 % um einen schlichtweg willkürlich gewählten Wert zu handeln.

In sämtlichen Bereichen lässt sich ein gewisses Maß an Digitalisierung verzeichnen. Bereits im Studium kommen Mediziner mit verschiedensten Formen der digitalen Welt in Kontakt. Während der Pandemie waren Präsenzveranstaltungen die absolute Ausnahme, stattdessen wurde auf Online-Lehre umgestellt. Es wäre schlichtweg paradox, die Online-Lehre als dem Standard entsprechend und somit akzeptabel anzusehen, die Behandlung von Patienten hingegen nicht. Schließlich wird den Studenten in der Universität genau das Wissen, welches sie später anwenden müssen, online vermittelt. Wenn dies als zielführend anerkannt wird, darf es bei der späteren Anwendung des Erlernten nicht plötzlich als dem Goldstandard widersprechend angesehen werden, Fernmedien zu nutzen. Hierdurch würde die gesamte Online-Wissensvermittlung ad absurdum geführt.

Fazit zu Videosprechstunden

Generell gilt, dass die Zuhilfenahme der digitalen Möglichkeiten nicht als Ersatz des persönlichen Arzt-Patienten-Kontakts, sondern als sinnvolle und gleichwertige Ergänzung angesehen werden muss. Um den rückschrittlichen Prozess umzukehren und die Flexibilität der medizinischen Versorgung wieder zu steigern, muss die Restriktion in Form der Quote von 30 % erneut und endgültig aufgehoben und auf die eigenverantwortliche Entscheidungsfähigkeit der behandelnden Mediziner vertraut werden. Nur diese verfügen über die erforderliche Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Frage, ob eine Fernbehandlung im konkreten Fall in Betracht kommt. Die Einschränkung sollte zudem zeitnah aufgehoben werden, damit telemedizinische Leistungen als akzeptierter Bestandteil in den medizinischen Standard integriert und somit zur Normalität werden. Die vergangenen zwei Jahre haben gezeigt, dass eine rasche Umsetzung möglich ist und die Nachfrage besteht.

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