Annotation zum Aufsatz „Update Telemedizin – Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen von Videosprechstunden“ von RA Dr. Julian Braun (MedR 2025, S. 777-783)
Die Digitalisierung des Gesundheitswesens nimmt weiter Fahrt auf – besonders die Telemedizin und Videosprechstunden stehen im Zentrum aktueller Reformen. Für Ärzt:innen, Zahnärzt:innen, Medizinproduktehersteller und Healthcare-Unternehmen bietet das neue rechtliche Umfeld sowohl innovative Möglichkeiten als auch spezifische Herausforderungen. Die Auswirkungen der jüngsten Änderungen für die Praxis bringt Dr. Julian Braun, der 2026 auf unserem 14. Bad Homburger Medizinrechtstag sprechen wird, in seinem gerade erschienenen Aufsatz auf den Punkt. Dass die Neuerungen – entgegen der eigentlichen gesetzgeberischen Intention – die Videosprechstunde mit neuen und weiterhin limitierenden Vorgaben regulieren, sieht der Autor zu recht kritisch.
Politischer Rückenwind für Telemedizin in Deutschland
In seiner Einleitung stellt Braun zunächst die rechtspolitische Lage dar: Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) betonte in seiner Digitalisierungsstrategie 2023 die essenzielle Rolle der Telemedizin für eine flexible, flächendeckende und qualitativ hochwertige Versorgung. Die 30-Prozent-Limitierung für telemedizinische Leistungen wurde aufgehoben, um das Potenzial der Telemedizin voll zu entfalten. Der politische Wille, Videosprechstunden und telemedizinische Angebote in weitem Umfang auszubauen, findet sich mittlerweile sowohl im Koalitionsvertrag als auch im Gesetzeswortlaut (etwa in § 87 Abs. 2n S. 2 SGB V) wieder.
Aktuelle rechtliche Neuerungen für Videosprechstunden
Im Folgenden beleuchtet der Autor die aktuellen rechtlichen Neuerungen: Im März 2025 traten mit der Anlage 31c zum Bundesmantelvertrag für Ärzte (BMV-Ä) wesentliche Änderungen in Kraft, die die Anforderungen für die Sicherung der Versorgungsqualität telemedizinischer Leistungen regeln. Schon aus der Präambel der Anlage, so Braun, ergibt sich, dass ein verstärktes Angebot von Videosprechstunden in der vertragsärztlichen Versorgung erwünscht ist. Zu den wichtigsten Vorgaben für die Praxis zählt er:
a) Niedrigschwelligkeit und diskriminierungsfreier Zugang
Im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) sollen Versicherte Videosprechstunden leicht und diskriminierungsfrei über verschiedene Kanäle wie Telefon, TI-Messenger oder Terminservicestellen in Anspruch nehmen können. Der Zugang darf nicht aufgrund von Rasse, Geschlecht, Behinderung, Religion, Alter oder anderer individueller Merkmale beschränkt werden; die medizinische Behandlungsbedürftigkeit ist das einzig zulässige Kriterium für die Terminpriorisierung.
b) Räumliche Nähe als Qualitätsgarant?
Ab September 2025 müssen digitale Terminvermittlungssysteme vorrangig Videosprechstunden von Vertragsärzten in regionaler Nähe zum Patienten anbieten. Ausnahmen gibt es nur für Online-Notdienste und ärztliche Zweitmeinungen. Die Definition der „räumlichen Nähe“ richtet sich nach der Fahrzeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln und ist abhängig von der jeweiligen Arztgruppe – 30 bzw. 60 Minuten sind hier die Messgrößen. Diese Regelung zielt auf eine bessere strukturierte Anschlussversorgung ab, wird jedoch kontrovers diskutiert, da sie die Grundidee der ortsunabhängigen Telemedizin konterkariert. Auch Braun sieht darin einen Widerspruch zum gesetzgeberischen Ziel des Ausbaus einer flächendeckenden telemedizinischen Versorgung mit Videosprechstunden.
c) Durchführung außerhalb des Vertragsarztsitzes
Die neue Anlage 31c BMV-Ä stellt klar, dass BehandlerInnen Videosprechstunden außerhalb der Praxis generell nur innerhalb Deutschlands und nur an voll ausgestatteten, abgeschlossenen Telearbeitsplätzen durchführen dürfen. Grenzüberschreitende ärztliche Tätigkeit („Workation“) bleibt ausgeschlossen, was vor allem für Grenzgänger und flexible Arbeitsmodelle relevant ist.
Zu Recht hinterfragt Braun, aufgrund welcher Qualitäts- oder Sicherheitserwägungen Videosprechstunden nur im Inland zugelassen sind, wenn sämtliche technischen und datenschutzrechtlichen Anforderungen erfüllt sind und insbesondere auch die strukturierte Anschlussversorgung gesichert ist.
d) Qualitätsanforderungen und strukturierte Anschlussversorgung
Ein weiterer sehr praxisrelevanter Punkt ist die Versorgung von sog. „unbekannten PatientInnen“ per Videosprechstunde. Als „unbekannt“ i.S.d. Anlage gilt ein Patient, bei dem im Zeitraum der letzten vier Quartale unter Einschluss des aktuellen Quartals vor Durchführung der Videosprechstunde kein persönlicher Arzt-Patienten-Kontakt in der die Videosprechstunde durchführenden Praxis stattgefunden hat. Bei diesen unbekannten PatientInnen muss der Vermittlung ein strukturiertes Ersteinschätzungsverfahren vorausgehen.
Im Rahmen der Ersteinschätzung muss festgestellt werden, ob der Fall für eine Videosprechstunde geeignet ist. Braun gibt zertifizierten Videodienstanbietern daher die Empfehlung, ein Tool, das als strukturiertes Ersteinschätzungsverfahren dient, als digitales Feature in ihre Produkte einzubauen.
Bisher nicht geklärt ist allerdings die Frage, ob ein Vertragsarzt, der eine Videosprechstundensoftware mit strukturiertem Ersteinschätzungsverfahren nutzt, haftet, wenn die Software anzeigt, dass ein bestimmter Behandlungsfall für eine Videosprechstunde geeignet ist, obwohl dies nicht zutrifft.
Hier vertritt Braun die Ansicht, dass sich ÄrztInnen zumindest berufsrechtlich exkulpieren können, da sie auf die Angaben der Software vertraut haben und dieses Vertrauen grds. auch schutzwürdig ist. Es wäre in der Tat sinnwidrig und wenig effizient, hier eine doppelte Geeignetheitsprüfung zu verlangen.
e) Neue Vergütungsregelungen für Videosprechstunden
Auch die Fallbegrenzung für Videosprechstunden wurde reformiert: Vertragsärztliche Praxen dürfen nun bis zu 50 % aller Behandlungsfälle ausschließlich per Video abwickeln – unabhängig davon, ob die Patient:innen bekannt sind.
Diese Liberalisierung begrüßt auch Braun, denn sie fördert die flächendeckende Versorgung, gerade in strukturschwachen Gebieten.
Fazit
Der sehr lesenswerte Aufsatz von Braun macht deutlich, dass die neue Gesetzgebung die Chance bietet, Telemedizinplattformen und digitale Tools im Sinne der PatientInnen weiter zu modernisieren und einen größeren Kundenkreis zu adressieren. Allerdings gibt es – neben einigen noch ungeklärten Fragen – zahlreiche neuen technische und versorgungsrechtliche Anforderungen, die in der Praxis rechtssicher und qualitativ hochwertig umgesetzt werden müssen.
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