Die Werbung für eine Fernbehandlung ist nach § 9 S. 1 HWG verboten, obschon der 121. Deutsche Ärztetag bereits im Jahre 2018 die Reformierung des § 7 Abs. 4 der Berufsordnung für Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä) beschloss. Durch die Neuerung wurde Ärzten erstmals ermöglicht, Patienten per Fernbehandlung zu betreuen. Eine Ausnahme wird dahingehend gemacht, dass dies nur im Einzelfall und nur erlaubt ist, wenn der Patient über das Spezifikum dieser Methode aufgeklärt sowie die notwendige ärztliche Sorgfalt gewahrt wird. Was trotz der Restriktion nach einem bevorstehenden Durchbruch für die Telemedizin klang, ist nur auf den ersten Blick als solcher wahrnehmbar.
Nach der Reform des § 7 MBO-Ä wurde der § 9 HWG um einen Satz 2 ergänzt, in welchem die Werbung unter engen Voraussetzungen als zulässig erachtet wird. Die Formulierung als Ausnahmetatbestand indiziert allerdings, die Fernbehandlung sei regelmäßig nicht sachdienlich, sondern lediglich subsidiär anzuwenden. Hierdurch wird die ausschließliche Fernbehandlung nahezu zum Tabuthema degradiert, denn, für den Fall, dass sich ein Arzt für die Durchführung entscheidet, stellt sich die Frage, wie er seine Patienten darauf aufmerksam machen kann, wenngleich er regelmäßig nicht damit werben darf. Hierbei dürfte insbesondere das Bestehen eines Unterlassungsanspruchs aus §§ 8, 3, 3a UWG i.V.m § 9 HWG abschreckend wirken, welcher eingreift, falls der Arzt die Schwelle zur unzulässigen Werbung überschreitet. Für juristische Laien dürfte jedoch kaum erkennbar sein, wann dies der Fall ist [vgl. Voßberg, GRUR-Prax 2022, 61 aE].
Der Goldstandard
Im Begründungstext zu § 7 Abs. 4 MBO-Ä heißt es, der persönliche Kontakt zwischen Arzt und Patient stelle „weiterhin den Goldstandard ärztlichen Handelns“ dar. Die Aussage verdeutlicht, dass Zweifel hinsichtlich der Professionalität sowie Sorgfältigkeit der ärztlichen Tätigkeit über Fernmedien als gesellschaftlicher Konsens unterstellt werden. Dies wird unter anderem durch das OLG Köln [Urteil v. 10.06.2022] und den BGH [Urteil v. 09.12.2021 – I ZR 146/20] angenommen, indem es in den Urteilsbegründungen heißt, das Telos des Werbeverbots bestehe im Schutz der öffentlichen sowie individuellen Gesundheit. Weiter wird hervorgehoben, dass die Fernbehandlung eine verkürzte Art der Behandlung sei und damit ein gesteigertes Gefährdungspotenzial berge.
Doch was bedeutet der von den Gerichten zugrunde gelegte Goldstandard? Der Begriff indiziert, dass der persönliche Kontakt zwischen Arzt und Patient besser sei, als die „bloße“ Fernbehandlung. Deren Zulässigkeit wird durch diese Ansicht praktisch ad absurdum geführt. Es lässt sich in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft eine Entwicklung in Form der Digitalisierung verzeichnen. Insbesondere durch die Corona-Pandemie wurde es für zahlreiche Menschen zum Alltag, ihrem Job im Homeoffice nachzugehen. Eine Verschlechterung der Qualität wurde gesellschaftlich nicht gerügt. Wieso wird bei einer Fernbehandlung durch Ärzte eine Qualitätsminderung befürchtet?
Gründe für die Fernbehandlung
Auf beiden Seiten lassen sich zahlreiche Gründe verzeichnen, die für die Durchführung einer ausschließlichen Fernbehandlung sprechen. So ist speziell in Zeiten einer globalen Pandemie hervorzuheben, dass überfüllte Wartezimmer, welche trotz Schutzmaßnahmen ein erhöhtes Ansteckungsrisiko bergen, vermieden werden können. Dies kommt zugleich denjenigen zugute, welche aufgrund von Behinderungen, aus Altersgründen oder wegen einer mangelnden Anbindung an Transportnetze und dem Fehlen von eigenen, auch finanziellen, Mitteln daran gehindert sind, eine Praxis ungehindert aufzusuchen [vgl. Katzenmeier, NJW 2019, 1769 (1771)].
Besonders in Anbetracht der steigenden Inflation ist dies zu berücksichtigen. Auch aus ökologischen und energieeffizienten Gesichtspunkten ist es erstrebenswert, da so der CO2-Ausstoß verringert wird und weniger Kosten für die Beheizung der Räumlichkeiten entstehen. Ferner lassen sich nicht nur für den Patienten eine erhebliche Zeitersparnis sowie erhöhte Praktikabilität verzeichnen. Schließlich muss das Praxispersonal nach der Behandlung nicht zunächst die Räumlichkeiten und Sitzflächen reinigen.
Vollzeitberufstätige haben häufig keine ausreichenden Kontingente frei, um persönlich zu einem Arzttermin zu erscheinen, was dazu führen kann, dass sie diese hinauszögern und ein wichtiger Austausch unter Umständen nicht rechtzeitig stattfindet. Dies dürfte dem Goldstandard widersprechen, da doch die Gesundheit der Öffentlichkeit und des Einzelnen im Vordergrund steht. Im Ergebnis führt der Einsatz der Fernbehandlung wegen der damit einhergehenden Flexibilität also unter Umständen sogar zu einer gesteigerten Gesundheit der Öffentlichkeit, jedenfalls aber zu einer begrüßenswerten Serviceleistung, über deren Wahrnehmung jeder Patient, in Absprache mit dem Arzt, selbst disponieren kann.
Fazit
Bei einem Beratungsgespräch oder der Planung einer Heilbehandlung ist es regelmäßig ohne Belang, ob sich die Beteiligten physisch gegenüberstehen. Einem Patienten, der über unklare Beschwerden klagt, wird ein Arzt demgegenüber keine Fernbehandlung vorschlagen, wohingegen es bei chronisch erkrankten Personen zur Steigerung der Lebensqualität durchaus hilfreich ist, zu überprüfende Gesundheitsparameter elektronisch zu übermitteln und per Fernmedien zu besprechen. Eine Fernbehandlung kommt also ohnehin nur infrage, wenn der Behandelnde dies als sinnvoll erachtet. Es ist zu unterstellen, dass er über das dafür erforderliche realistische Einschätzungsvermögen verfügt. Diversität und Komplexität erfordern, dass ihm diese Entscheidung vorbehalten bleibt. Hierfür muss er die Offerte der Fernbehandlung jedoch zunächst unterbreiten können, ohne rechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen.
Die Ärzte selbst haben durch den Beschluss der Änderung des § 7 Abs. 4 MBO-Ä ihren Willen manifestiert, Fernbehandlungen durchzuführen. Dass sich das Angebot in einer Zeitspanne von vier Jahren dennoch nicht durchgesetzt hat, verdeutlicht, dass die bestehenden rechtlichen Hürden verringert werden müssen. Die Judikative verfügt nicht über die notwendige medizinische Expertise, im Einzelfall entscheiden zu können, ob ein persönlicher Kontakt erforderlich ist. Daher muss der bisherige Goldstandard, den die Gerichte den Ärzten auferlegen, beseitigt werden. Eine fallbezogene Betrachtungsweise muss favorisiert und das bestehende Werbeverbot aus § 9 HWG erheblich gelockert werden, um zu verdeutlichen, dass die Fernbehandlung ein ärztliches Verhalten de lege artis darstellt.