Die Digitalisierung im Gesundheitswesen macht einen weiteren bedeutenden Schritt nach vorn: Seit Juli 2025 gilt für die Videosprechstunde eine neue, bundesweit einheitliche Obergrenze von 50 Prozent der Behandlungsfälle pro Quartal – ohne Unterscheidung zwischen bekannten und unbekannten Patientinnen und Patienten. Diese Änderung gibt Ärztinnen und Ärzten neue Gestaltungsspielräume, verlangt allerdings auch nach angepassten organisatorischen und rechtlichen Abläufen.
Hintergrund: Von der Ausnahmeregelung zum Versorgungsstandard
Spätestens die Pandemie hat die Videosprechstunde nach Jahren des Nischendaseins in den Praxisalltag katapultiert. Telemedizin wurde zur Brücke, um Kontakte zu reduzieren und dennoch eine flächendeckende ambulante Versorgung sicherzustellen. Mit der Gesetzesanpassung rückwirkend zum 1. April 2025 wird dieser digitale Weg nun endgültig zur regulären Behandlungsoption erhoben.
Telemedizin, Telematik und E-Health: Begriffliche Einordnung
Gerade angesichts ihrer neuen Rolle im Versorgungsalltag lohnt sich ein genauer Blick auf die Abgrenzung: Die Begriffe Telemedizin, Telematik und E-Health werden im Gesundheitswesen häufig vermischt, meinen dennoch nicht dasselbe. E-Health („Electronic Health“) bildet den Oberbegriff für sämtliche digitalen Anwendungen und Prozesse in der medizinischen Versorgung. Wesentliche Merkmale sind die Digitalisierung, sektorübergreifende Vernetzung und die Ermöglichung effizienter Kommunikation und Dokumentation zwischen allen Beteiligten — darunter Ärzt:innen, Patient:innen und Versicherungen.
Telemedizin dagegen ist ein konkreter Anwendungsfall innerhalb dieses digitalen Rahmens und beschreibt medizinische Diagnostik, Beratung oder Behandlung über räumliche Distanzen hinweg – beispielsweise per Videosprechstunde oder telekonsiliarischer Befundübermittlung.
Der Begriff Telematik setzt sich aus Telekommunikation und Informatik zusammen und beschreibt im Kern die technische Infrastruktur, mit der digitale Kommunikation im Gesundheitswesen überhaupt ermöglicht wird. Die sogenannte Telematikinfrastruktur stellt die sichere Verbindung aller Akteure im Gesundheitswesen her und ist Grundvoraussetzung für eine gelingende Telemedizin.
Gesetzliche Rahmenbedingungen im Überblick
Der gezielte Ausbau dieses Digital-Ökosystems ist ein erklärtes Ziel des Gesetzgebers. Das E-Health-Gesetz von 2015 hat dafür die Grundlagen gelegt und verbindliche Vorgaben und Fristen für sichere Telematikinfrastruktur sowie telemedizinische Anwendungen etabliert, wie etwa Online-Videosprechstunden. Verstöße gegen diese Vorgaben werden teils sanktioniert. Zudem regelt das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) die Einführung der elektronischen Patientenakte seit 2021, die Versicherten auch mobil zur Verfügung steht und damit die Digitalisierung weiter vorantreibt.
Telemedizin: Rechtliche Verankerung und Vergütung
Telemedizinische Leistungen sind über den Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) im Sozialgesetzbuch (§ 87 Abs. 2a SGB V) rechtlich und vergütungsseitig abgesichert. Der Bewertungsausschuss, bestehend aus Vertretern von Ärzten und Kassen, passt das Regelwerk kontinuierlich an, um telemedizinische Angebote fair in das Versorgungssystem zu integrieren. Grundlage dafür sind Rahmenvereinbarungen der Selbstverwaltung, die konkret definieren, welche telemedizinischen Leistungen erstattungsfähig sind.
Was genau ändert sich?
In der Vergangenheit war die rein virtuelle Versorgung von Patientinnen und Patienten in Arztpraxen streng limitiert. Für bekannte Patienten galt, dass maximal 50 Prozent der Behandlungsfälle pro Quartal ausschließlich per Video betreut werden durften. Für unbekannte Patienten war die Grenze noch strikter: Hier erlaubte der Gesetzgeber lediglich 30 Prozent dieser Fälle. Diese differenzierte Regelung führte regelmäßig zu Unsicherheiten in den Praxen, verursachte Abrechnungsfehler und brachte einen erheblichen bürokratischen Mehraufwand mit sich. Mit dem aktuellen Beschluss des Bewertungsausschusses, der rückwirkend zum 1. April 2025 in Kraft tritt, ergeben sich deutliche Erleichterungen für alle Praxen: Nun dürfen bis zu 50 Prozent der konsolidierten Behandlungsfälle einer Praxis pro Quartal ausschließlich per Videosprechstunde erfolgen. Die bisherige Unterscheidung zwischen bekannten und unbekannten Patienten entfällt dabei vollständig – für die Obergrenze ist diese Differenzierung künftig nicht mehr relevant. Entscheidend für die Abrechnung bleiben ausschließlich die sogenannten „reinen“ Videofälle, das heißt, diejenigen Behandlungsfälle, in denen die Patientin oder der Patient im betreffenden Quartal zu keinem Zeitpunkt persönlich in der Praxis erschienen ist.
Auswirkungen und Chancen für den Praxisalltag
Die Neuregelung bringt für Praxen spürbare Erleichterungen: Zum einen entfällt die bürokratische Unterscheidung zwischen bekannten und unbekannten Patienten, wodurch sich der Verwaltungsaufwand reduziert und die Patientenversorgung flexibler gestaltet werden kann – etwa bei hoher Nachfrage oder in unterversorgten Regionen.
Patientinnen und Patienten profitieren von einer besseren Erreichbarkeit der medizinischen Versorgung, insbesondere Berufstätige, Menschen mit eingeschränkter Mobilität und Personen in ländlichen Gebieten.
Nicht zuletzt sorgt die erleichterte Telekonsultation für eine effizientere Organisation und wirtschaftlichere Abläufe im Praxisalltag, sofern die notwendigen technischen und rechtlichen Rahmenbedingungen erfüllt sind.
Abrechnungsfragen und rechtliche Vorgaben: Was Praxen beachten müssen
1. Abrechnung in der Videosprechstunde:
Nicht alle Leistungen sind mit der Videosprechstunde gleichgestellt. Besonders der GOP 01452-Zuschlag für die ausschließliche Videosprechstunde ist weiterhin nur für als „bekannt“ geltende Patientinnen und Patienten abrechenbar – also für jene, die innerhalb der letzten sechs Quartale mindestens einmal persönlich in der Praxis waren. Änderungen wie Erstkontakte oder Kontrollbesuche erfordern deshalb weiterhin eine sorgfältige Dokumentation.
2. Technische Anforderungen und Datenschutz:
Für die technische Umsetzung der Videosprechstunde dürfen ausschließlich von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zertifizierte Videodienstanbieter genutzt werden. Damit dabei der Schutz sensibler Daten gewährleistet bleibt, ist vorab eine umfassende, datenschutzkonforme Aufklärung der Patientinnen und Patienten erforderlich – ebenso wie ihre ausdrückliche Einwilligung. Während der Videosprechstunde selbst muss darüber hinaus immer sichergestellt sein, dass das Gespräch in einer geschützten und vertraulichen Atmosphäre stattfinden kann.
3. Medizinische Sorgfaltspflichten:
Auch im virtuellen Raum gilt: Nicht jede Beschwerde ist telemedizinisch zu handhaben. Ärztinnen und Ärzte müssen im Einzelfall abwägen, ob eine Videosprechstunde aus medizinischer Sicht ausreichend ist oder eine persönliche Vorstellung notwendig bleibt. Das Haftungsrisiko für Fehldiagnosen durch unzureichende telemedizinische Anamnese bleibt präsent.
4. Sonderfälle und Ausnahmen
Abschließend bleibt zu beachten, dass es einige Ausnahmen von der 50-Prozent-Regelung gibt: So findet diese Begrenzung weder auf Notdienstkontakte noch auf Behandlungsfälle Anwendung, die über Terminservicestellen vermittelt wurden. Werden im Rahmen der Videosprechstunde darüber hinaus weitergehende Leistungen wie etwa die Ausstellung von Rezepten oder Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erbracht, gelten hierfür weiterhin die bekannten rechtlichen und organisatorischen Vorgaben.
Handlungsempfehlungen für Praxen
Um die Vorteile der neuen Regelung bestmöglich zu nutzen, empfehlen wir:
Fazit: Die Videosprechstunde ist gekommen, um zu bleiben
Mit der neuen 50%-Grenze für Videosprechstunden verliert die telemedizinische Behandlung ihre Sonderrolle und wird endgültig zum festen Baustein der ambulanten Medizin in Deutschland. Die praktische Umsetzung erfordert allerdings weiterhin sorgfältige Organisation, medizinische Abwägung und präzise Abrechnung. Richtig implementiert, profitieren sowohl Praxen als auch Patientinnen und Patienten in hohem Maße von mehr Flexibilität, Erreichbarkeit und Entlastung im Versorgungsalltag.
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